eine Gemeinschaftsgeschichte von allen Workshopteilnehmern, ausformuliert von Kathrin Herkel und Carena de Vries
„Aufstehen, ihr Faulpelze, ihr Dreckspack, ihr Nichtsnutze!“
Thomas schreckte aus dem Schlaf auf. Seine Knochen taten ihm weh und er fror. Die Nacht hatte er auf dem steinernen Fußboden verbracht, seine Schlafstelle war mit einer dünnen Schicht Stroh bedeckt. Wieder eine weitere Nacht. Thomas griff nach einem kleinen Kieselstein und ritze eine Kerbe in die Steinmauer. Das war die 6256 ste Kerbe. Noch 1044 Striche, dann hatte er es geschafft. 20 Jahre, 7300 Nächte in einem feuchten Loch – als Strafe für eine Tat, die er damals als 10jähriger begangen hatte. Seine Familie war arm. Er erinnerte sich. Ein Stück hartes Brot, so groß wie seine kleine Kinderhand, das musste für den Tag reichen. Sie waren 9 Geschwister und sie hatten immer Hunger. Thomas Magen knurrte auch jetzt. Mit seinem Bruder Michael hatten sie damals vom reichen Kaufmann Geld gestohlen. Michael konnte ungesehen entfliehen, zum Glück hatte er den Beutel mit dem Geld bei sich. Thomas hatte man erwischt. In seinen Hosentaschen steckte auch Geld. Er schwieg, verriet seinen Bruder nicht und war glücklich, dass seiner Familie wenigstens etwas Geld geblieben war. Thomas war ein Dieb und für dieses Verbrechen sollte er 20 Jahre im Gefängnis sitzen. 17 Jahre und 51 Tage waren seither vergangen.
„Steh endlich auf, du Taugenichts!“, schrie ihn der Gefängniswärter an, „oder bist du schon tot?“ Nein, dies war zwar kein Leben, aber tot war Thomas nicht. Angekettet an die anderen Häftlinge musste Thomas jeden Tag schwere körperliche Arbeit verrichten. Oft wurde er von den Gefängniswärtern geschlagen und die eisernen Ketten an seinen Händen und Füßen hinterließen tiefe Wunden. Dann wünschte Thomas sich manchmal, lieber tot zu sein, doch noch größer war der Wunsch gewesen, seine Mutter endlich wiederzusehen.
Der Fraß, den der Wärter ihm in einem Blechnapf in die Zelle geschoben hatte, war widerlich. Aber er hatte solch großen Hunger, dass er gierig die Hafergrütze verschlang. Den trockenen Kanten Brot steckte er sich in seine Tasche. Auch, wenn Thomas immer hungrig war, er musste sich sein Essen einteilen. Erst am Abend würde er wieder etwas bekommen. Eine halbe Kelle wässriger Suppe.
Thomas ging zum Fenster seiner Kerkerzelle. Etwas Tageslicht fiel hinein. Er hörte das Treiben der Marktstraße und wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er die Füße der Menschen sehen und den Geruch der Stadt wahrnehmen. Oft machten Jungs sich einen Spaß daraus, sich zum pinkeln an die Wand zu stellen und durch das Kerkerfenster zu zielen. So roch es meist beißend nach Urin und den Abfällen der Stadt.
Rebecca tänzelte über den Markt. Sie genoss das sonnige Wetter und anders als Thomas atmete sie dem Duft von frischen Backwaren und gebrannten Mandeln ein. Neugierig steckte sie ihre Nase in all die süßen Leckereien. Auch die Kinder der Stadt streckten ihre ungewaschenen Finger nach den getrockneten Früchten und dem herrlich duftenden Gebäck aus. An dem Stand des Bäckermeisters Ohm blieb Rebecca stehen. Neugierig betrachtete sie sich die Ware.
„Guten Morgen, junges Fräulein, was kann ich für sie tun?“, fragte der Meister Rebecca. Doch da langte ein kleines Mädchen nach dem Naschwerk. „Mach, das du weg kommst.“, herrschte Ohm sie an. Dann wandte er sich wieder Rebecca zu: „Entschuldigen sie bitte.“ Rebecca machte eine Geste, die andeutete, dass er sich dafür nicht entschuldigen müsse, doch da hatte sich das kleine Mädchen neben ihr bereits eine kandierte Frucht geangelt und rannte damit fort. Der Bäckermeister stürzte ihr hinterher und schrie: „Haltet die kleine Diebin, sie hat mir Ware gestohlen!“ Die Leute sahen sich nach dem Mädchen um, doch dieses entzog sich den Armen, die nach ihr greifen wollten und schlüpfte zwischen den Marktbesuchern hindurch, flink und wendig wie ein Wiesel.
Rebecca ließ unterdessen eine Süßigkeit nach der anderen in ihr Beutelchen wandern, was sie am Handgelenk trug und schlenderte unbehelligt heimwärts.
Zuhause empfing sie ihr Vater, der Bürgermeister der Stadt, Friedrich Weiland. Er war ein angesehener und stattlicher Herr mittleren Alters und neben seinen Amtsgeschäften war Rebecca, nachdem seine Frau bei ihrer Geburt verstorben war, seine einzige Freude im Leben. Einst war er verliebt in die Tochter eines Tischlers, aber die hatte ihn verschmäht. Damals war er ein Junge, ein Habenichts, seine Eltern hatten ein geringes Auskommen gehabt. Als er in die Lehre zu einem Kaufmann ging, führte das Schicksal ihm seine Frau Maria zu. Sie war eine stille, liebevolle aber kränkliche Frau gewesen. Doch sie hatte ihm Rebecca geschenkt. Inzwischen waren 18 Jahre vergangen und er hatte es weit gebracht und war Bürgermeister geworden.
„Wo bist du gewesen, mein Liebes?“, begrüßte er seine Tochter und nahm ihre Hände in seine. Verwundert ließ er sie sogleich wieder los und fragte: „Warum hast du so klebrige Hände?“ Rebecca wurde schlagartig rot und stammelte: „Ich war auf dem Markt.“ Der Vater, der längst auch den Puderzucker auf ihrer Oberlippe bemerkt hatte, wurde ärgerlich. „Du hast Süßigkeiten genascht!“, stellte er fest. „Habe ich dir nicht untersagt, Naschwerk zu kaufen?“
„Ich habe es nicht gekauft!“, verteidigte sich Rebecca sofort. „Soso, das wird ja immer schöner!“ entrüstete sich Weiland. Rebecca biss sich vor Scham auf die Lippe. „Dann hast du es gestohlen oder willst du mir weismachen, ein edler Bäckersmann, der Gefallen an deinem süßen Näschen gefunden hat, habe es dir geschenkt?“ Rebecca konnte nichts entgegnen.
„Zeig mir mal deinen Beutel.“, forderte der Vater sie auf. Rebecca wollte sich sträuben, doch ihr Vater hatte sie zu einem folgsamen Mädchen erzogen, was nicht widersprach und so gehorchte sie.
Die Inspektion des Beutels brachte zum Vorschein, was Friedrich Weiland bereits vermutet hatte. Enttäuscht blickte er zu seiner Tochter auf.
„Mangelt es dir an etwas?
Rebecca schüttelte den Kopf.
„Antworte!“ herrschte er sie an.
„Nein, Vater!“
„Habe ich nicht immer gut für dich gesorgt?“
„Doch, Vater!“
„Bekommst du nicht genug zu essen in diesem Haus?“
„Vater, bitte!“
„Antworte mir!“. Weiland war in Rage.
„Doch, Vater!“
„Hat meine Tochter es nötig, andere zu bestehlen?“
„Nein, Vater!“
„Du solltest wissen, wie es Menschen ergeht, die gestohlen haben und die kaum zu essen bekommen. Morgen früh wirst du in den Kerker gehen und den Dieben ihr karges Mahl servieren.“
Mit weit aufgerissenen Augen sah Rebecca ihn an. Sie streckte ihre Arme nach ihm aus und flehte: „Nein, Vater, tu das nicht.“
Mit kalten Augen blickte der Vater zu ihr zurück und antwortete: „Du wirst tun, was ich gesagt habe!“ Dann wandte er sich ab und ging.
Am nächsten Morgen in aller Früh wurde Rebecca von Elsa, dem Hausmädchen, geweckt.
„Aufstehen, junges Fräulein, sie müssen aufstehen.“
„Elsa, es ist früh, lass mich schlafen!“
„Das geht nicht, junges Fräulein. Ihr Vater schickt mich, sie zu wecken.“
Erschrocken richtete sich Rebecca kerzengerade in ihrem Bett auf.
„Mein Vater?“
„Ja, ihr Vater. Er wartet bereits unten auf sie.“
„Unten? Mein Vater?“ Ungläubig sah Rebecca das Dienstmädchen an.
„Ach, mein Fräulein“, seufzte Elsa, „Ihr Vater hat ihnen doch befohlen, heute früh das Essen an die Gefangenen zu verteilen. Haben sie denn alles vergessen?“
Rebecca erstarrte. Sie erinnerte sich und wurde rot, als sie an den unschönen Vorfall von gestern dachte. Sie schämte sich.
„Du weißt davon, Elsa?“
Das Dienstmädchen schlug die Augen nieder und nickte leicht. Doch dann antwortete sie energisch: „Sie müssen nicht denken, ich hätte gelauscht. Sie standen im Foyer und haben sehr laut gesprochen. Besonders ihr Vater. Es ließ sich nicht vermeiden. Und heute morgen schickte er mich dann zu ihnen.“
„Schon gut, Elsa, mach dir keine Gedanken. Ich bin ja in diesem Fall die Sünderin.“ Rebecca atmete tief aus und erhob sich aus ihrem Bett. Bedauernd sah Elsa sie an und half ihr dann schweigend in ihre Kleider.
Als Rebecca die große Eichenholztreppe hinab zur Eingangshalle ging, stand ihr Vater bereits wartend im Foyer. Insgeheim hatte sie natürlich gehofft, ihr Vater hätte seine Worte von gestern vergessen und sein Zorn sei milder geworden. Aber nein, nicht ihr Vater. Das wurde ihr bewusst, als sie nur einen Moment länger darüber nachdachte.
Als Friedrich Weiland seine Tochter zu sich hinab kommen sah, berührte ihr Anblick sein Herz. Sie war wunderschön und er liebte sie über alles. Jedoch viel Zeit für die Liebe hatte er sich nie genommen. Er war ein Mann des Gesetzes geworden, der treu seine Pflicht tat. Recht und Ordnung standen für ihn an erster Stelle. Er bekleidete das wichtigste Amt in der Stadt und sein Ansehen in der Bevölkerung verdankte er seinem Gerechtigkeitssinn, seiner Rechtschaffenheit und dass er ein Mann war, der stets zu seinem Wort stand. Die Einwohner seiner Stadt vertrauten ihm, respektierten und achteten ihn. Und umgekehrt, so maßte er sich an, könne er ebenso erwarten, dass man ihn beim Wort nahm. Ein Mann wie Friedrich Weiland nahm eine einmal ausgesprochene Strafe nicht zurück, wenn sie zu recht gesprochen war. Und davon war er überzeugt. Auch wenn es sich diesmal um seine eigene Tochter handele. So unterdrückte er sein aufkommendes Mitgefühl, welches die verzagten Schritte seiner Tochter und ihr verängstigter Blick in ihm auslösten, reichte ihr seinen linken Arm zum Geleit und sagte: „Gehen wir!“
Im Gefängnis der Stadt war es kalt und feucht. Rebecca fröstelte. Und sie fürchtete sich auch vor dem Anblick der Gefangenen, verabscheute den üblen Geruch.
„Vater, bitte, wir müssen das nicht mehr tun. Ich habe meine Lektion verstanden und werde nie wieder etwas stehlen.“
„Nein, mein Kind, du wirst es tun. Ich halte mein Wort“ Friedrich Weiland hob die Hand um mit der Faust an die Tür des Aufsehers zu klopfen. Doch da drangen bereits Schnarchgeräusche aus dem Raum. Weiland pochte energisch gegen die Tür: „Wachen sie auf!“ Drinnen regte sich etwas. „Aufwachen!“, rief Weiland erneut. Ein Stuhl scharrte. „Moment, ich komme ja schon.“ Die Tür war von innen verschlossen und wurde nun entriegelt. Als sie geöffnet wurde, stammelte eine erstaunte Stimme:“ Oh, Herr Bürgermeister……entschuldigen sie“
„Breuer, sie sind’s, hätte ich mir ja denken können.“entgegnete Weiland und warf durch den Spalt in der Tür einen Blick in den Raum. Die Flasche auf dem Schreibtisch entdeckte er als erstes.
„Haben sie getrunken? Sie sollen Nachtwache halten und nicht schlafen.“
„Nur einen kleinen Schluck Wein, Herr Bürgermeister, gestern war doch mein Geburtstag.“
„Soso, Geburtstag hatten sie also. Dann gratuliere ich ihnen. Ich habe auch eine Überraschung für sie, sozusagen als kleines Geschenk.“
Breuer schaute verdutzt auf.
„Sie brauchen das Frühstück an die Gefangenen heute nicht selbst ausgeben, meine Tochter wird das übernehmen.“
„Aber Herr Bürgermeister…….“
„Keine Widerrede, es ist mein Wille. Ich überlasse ihnen meine Tochter, bis sie fertig sind.“ Und an Rebecca gewandt sagte er: „Und du, Rebecca, wirst tun, was dieser Herr dir sagt. Ich werde mir berichten lassen.“
„Ja, Vater.“
irgendwo, mitten in der Geschichte geht es dann weiter…………….
Schriftrolle / Brief
Vor vielen Jahren als er so verliebt in Elisabeth war, schrieb Friedrich einen Liebesbrief an sie.
Sie erhält ihn nicht, da ihre Mutter ihn abfängt. Sie will nicht, dass ihre Tochter Friedrich weiterhin verspottet.
Aktionteil (Felix):
Johann, Kundschafter der Schlangenfrau, kommt außer Atem angerannt und berichtet, dass die Bewohner der Stadt sich zum Kampf rüsten.
Männer aus der Stadt kommen an der Burg an.
Sie werden von einem Regen aus Pfeilen begrüßt.
Kampf/Fehde, richtiges Gemetzel, hauen und stechen,
Die Männer aus der Stadt machen es den Leuten in der Burg nicht leicht, sie abzuwehren. Sie dringen immer weiter vor.
Elisabeth, die Schlangenfrau merkt, dass es eng für sie werden könnte, flieht durch Geheimgang von der Burg.
Elisabeths Mutter wuchs auf der Burg auf, die ihren Eltern gehörte. Nach dem Tod beider fühlte sie sich dort nicht mehr wohl. Sie zog in ein kleines Haus am Rande der Stadt.
Sie überlegt, wo sie hin könnte, wo würde sie niemand vermuten.
Sie schwimmt als Schlange in die Stadt, schleicht durch die Straßen.
Elisabeth hat es geschafft. Unbemerkt ist sie am Haus ihrer Mutter angekommen. An der Gartenpforte hatte sie kurz Angst gehabt, erwischt zu werden. Diese hatte laut gequietscht, als sie sie vorsichtig öffnen wollte. Erschrocken hatte sie sich umgeschaut und gelauscht. „War da jemand? Hatte einer das Geräusch vernommen?“, diese Fragen schossen ihr blitzschnell durch den Kopf. Doch der kleine Weg zum Haus war menschenleer. Es war niemand zu sehen und außer dem Vogelgezwitscher aus dem Garten war auch nichts zu hören.
Elisabeth beruhigte sich. Erleichtert schlich sie auf dem schmalen Weg durch den Vorgarten bis zum Haus. Sie hatte nur die Tür im Blick, die sie schnellst möglichst hinter sich schließen wollte. Die Schönheit des verwilderten Gartens blieb ihr verborgen
Behutsam öffnet sie die Tür und schlüpft durch einen Spalt, der gerade groß genug ist, ins Innere des Hauses.
Langsam geht sie von Raum zu Raum. Die Erinnerung holt sie ein.
Ihre Mutter war eine gute Mutter mit einem großen Herzen voller Liebe. Doch sie ist nicht mehr da. Sie war gestorben vor Kummer und Gram über das Verhalten ihrer Tochter, die sie innig liebte. Sie war ihr ein und alles. Sie war so ein nettes, hübsches, kleines Mädchen gewesen, ihre Sonne, die ihr Herz wärmte, die all die Widrigkeiten des Alltags leichter werden ließ.
Doch was war aus ihr geworden, als sie heranwuchs? Sie war immer noch bildschön. Viele Mädchen beneideten sie. Den jungen Männern gegenüber aber war sie so garstig, verhöhnte und verspottete sie, trieb ihre Spielchen mit ihnen. Sie hatte sich ihrer so geschämt, hatte sie verflucht, sie verloren. Sie selbst konnte sie nie wieder zurückbringen. Das bekümmerte ihr Herz so sehr, dass es brach und eines Tages aufgehört hatte zu schlagen.
Nun stand Elisabeth in der kleinen Stube im Haus ihrer Mutter. Es war so still. Lange war es her, dass sie zuletzt hier war. Dieses kleine Zimmer mit der tiefen Decke, der gemütlichen Bank an der Wand mit seinen bunten Kissen, die ihre Mutter selbst genäht hatte Davor stand der urige Holztisch, an dem sie so oft zusammen gesessen hatten. Noch immer wirkte es so behaglich und strahlte so viel Geborgenheit aus wie damals als sie noch klein war. Sie dachte an die dunklen Abende, als sie bei Kerzenschein vor dem Kamin saß, ganz eng an ihre Mutter gekuschelt. Sie liebte die alten Geschichten, die ihre Mutter zu erzählen wusste.
Da fiel ihr das kleine Buch ein, das sie bei ihrer Mutter gesehen hatte. Dort standen alle Geschichten drin. Ihre Mutter kannte sie alle auswendig, so oft hatte sie sie schon erzählt. Sie holte es nur selten hervor, nur wenn ihre Tochter etwas ganz genau wissen wollte. Dann schauten sie sich zusammen die wunderschönen Zeichnungen darin an.
Elisabeth überlegte. Wo hatte sie es noch aufbewahrt? Eigentlich gab es nicht so viele Möglichkeiten. Zielstrebig ging sie hinüber in die Schlafkammer, einen kleinen, engen Raum. Es fiel nur wenig Licht durch das winzige Fenster hinein, vor dem auf einem kleinen Tischchen immer noch die Waschschüssel und der Wasserkrug standen. Es sah aus, wie immer, so als könnte ihre Mutter jeden Augenblick in ihrem Nachthemd mit der Kerze in der Hand hineinkommen. Schüssel und Krug waren leer, bis auf die dicke Staubschicht, die sich im Laufe der Zeit auf beides gelegt hatte.
Neben dem Bett ihrer Mutter stand ein sehr altes, kleines Schränkchen. Dieses hatte eine kleine Schublade mit einem kleinen schwarzen, eisernen Ring, an dem man ziehen konnte, um sie zu öffnen. Elisabeth streckte die Hand danach aus. Plötzlich hielt sie in ihrer Bewegung inne. Sollte sie es wirklich tun? Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie schaute verunsichert um sich, fast so als fürchtete sie von ihrer Mutter erwischt zu werden. Sie fühlte sich auf einmal ganz klein. Was tat sie hier eigentlich? Sollte sie lieber wieder gehen? Doch ihre Neugier war so groß. Würde sie das Buch in der Schublade finden, ein kleines Andenken an ihre liebe Mutter? Nach einer Weile überwand sie sich, steckte ihren Zeigefinger in den kleinen Ring und zog daran. Die Schublade klemmte etwas. Sie ruckelte und zog solang daran, bis es ihr endlich gelang, sie zu öffnen. Da lag es, das kleine Buch ihrer Mutter. Vorsichtig, beinahe andächtig nahm sie es in ihre schmalen Hände. Sie stand einfach nur da. Erst betrachtete sie das Buch in Gedanken versunken. Einem plötzlichen Verlangen folgend presste sie an ihre Brust, umschlang es und sich selbst ein Stück mit ihren Armen. Ein Gefühl der Traurigkeit erfasste sie. Sie sehnte sich auf einmal sehr nach ihrer Mutter, nach ihrer Liebe, ihrer Stärke, ihrer fröhlichen, herzlichen Art.
Was hatte sie ihr nur angetan? Und sich selbst auch?! So viel verschenkte Zeit! Unabänderlich vorbei. Was würde sie dafür geben, sich bei ihrer Mutter entschuldigen zu können, in ihre Augen schauen, sich in ihre Arme kuscheln zu können? „Bitte verzeih mir, Mama!“, dachte sie flehentlich. Ein paar Tränen rollten über ihre Wangen.
Auf einmal wurde sie ihrer gewahr, fühlte sie auf ihrer Haut. Angst überkam sie, ihre Tränen könnten das Buch benetzen. Oh, nein! Hastig fuhr sie sich mit dem rechten Handrücken über das Gesicht, mit der linken Hand das Buch immer noch fest an sich gedrückt.
Sie atmete tief ein. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Vergangenheit ruhen zu lassen. Sie konnte nichts mehr tun.
Da schien ein schmaler Sonnenstrahl durch das winzige Fenster. Es wirkte wie ein Fingerzeig, ein Zeichen. „Schau nach vorn mein Mädchen!“ Einen Moment lang genoss sie es, den Staub bei seinem Tanz im Sonnenlicht zu beobachten. Sie sah ihn nicht wirklich. Sie sah sich als kleines Mädchen an den Händen ihrer Mutter. Sie tanzten singend und lachend auf einer bunten Wiese im Sonnenschein. Ihr war fast so, als könne sie ihre Stimmen hören, den Wind in ihren Haaren spüren, der mit ihren Locken spielte, das fröhliche Blitzen in den Augen ihrer Mutter sehen.
Da stand sie und wiegte sich ganz versunken zum Gesang in ihrem Kopf. Ein Vogel huschte am Fenster vorbei, vielleicht eine Meise oder ein Spatz, holte sie zurück in die Gegenwart.
Nein, sie war kein kleines Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau, gefangen in einem Fluch, den sie wahrscheinlich niemals loswerden würde.
Sie besann sich auf das Buch in ihrer Hand. Neugier packte sie. Würden die Bilder so aussehen wie in ihrer Erinnerung? Mit vor Aufregung zitternden Fingern fing sie an, darin zu blättern, ganz vorsichtig. Sie wollte es nicht verletzen. Ja, so fühlte es sich für sie an. Als würde sie es durch Unachtsamkeit verletzen können.
Doch was war das? Aus dem Buch schien sich eine Seite gelöst zu haben. Sie fiel zu Boden. Elisabeth stand stocksteif. Sie hatte einfach kein Glück. Was sie auch begann, es ging schief. Das war wohl ihr Schicksal. Sie könnte heulen! Doch sie riss sich zusammen, wollte die Seite aufheben und schauen, an welche Stelle sie im Buch gehörte.
Sie kniete nieder. Vor ihr lag keine Buchseite, vor ihr lag ein Brief. Verwirrt drehte sie ihn in ihren Händen, betrachtete ihn von allen Seiten. Nein, das war nicht die Handschrift ihrer Mutter. Von wem war dieser Brief? Wieso hatte er in dem Buch gesteckt? Wollte sie etwas verheimlichen? Hatte es im Leben ihrer Mutter vielleicht einen Verehrer gegeben? Ihre Gedanken überschlugen sich.
Was sollte sie nun damit tun? Durfte sie ihn öffnen? Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger über die Buchstaben. Elisabeth. Ihr Atem stockte, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, sie hatte einen Kloß im Hals. „Das ist ja mein Name.“, dachte sie erstaunt. Nun verstand sie gar nichts mehr. Warum steckte im Buch ihrer Mutter ein Brief für sie? Von wem war er? Wie lange mochte er dort schon gelegen haben? Sie hatte keine Ahnung. Auf jeden Fall war er etwas ganz besonderes. Ein Brief, nur für sie. Unglaublich. Sie hatte noch nie einen Brief bekommen. Sie spürte das Papier in ihren Händen. Sollte sie ihn öffnen? Jetzt? Hier? Nein, nein, das ging nicht. Erst müsste sie sich etwas beruhigen. Wer weiß, was da drin stand. Unruhig lief sie durch die winzige Schlafkammer. Vier Schritte bis zum Fenster und vier Schritte zurück zur Tür. Dreimal. Dann blieb sie stehen. Das war einfach nicht genug Platz. Sie ging zurück in die Stube. Doch auch sie wirkte ihr zu klein. Sie brauchte Platz, brauchte Luft, musste raus. Sie stürmte durch die schmale Hintertür in den Garten.
Er war immer noch wunderschön. Die verschiedensten Blumen blühten überall, Bienen summten und auch andere Insekten flogen tänzelnd durch die warme Luft. Der alte, knorrige Apfelbaum streckte seine Zweige über alles hinweg. In seiner Krone zwitscherten unbeschwert Vögel.
Nichts von alldem sah und hörte Elisabeth. Unruhe trieb sie den schmalen, kaum noch erkennbaren Gartenweg entlang. Hin und her, hin und her. Sie rang mit sich, blieb immer wieder stehen, schaute auf den Brief, ließ ihn sinken, lief weiter.
Mit der Zeit kehrte Ruhe in sie ein. Ihre Schritte verlangsamten sich. Als erstes nahm sie das Vogelgezwitscher wahr. Sie schaute blinzelnd zum Apfelbaum, durch dessen Blätter Sonnenstrahlen lugten. Ob an seinem Stamm noch die Bank stand? Manchmal hatte sie dort gesessen und Früchte genascht, die sie im Garten gepflückt hatte.
Wie aus einem sonderbaren Traum erwacht schaute sie sich um und nahm die ganze Pracht des Blütenmeeres wahr, das sie umgab. Mit dem Brief in der einen Hand und mit der anderen Hand die Blumenköpfe und Grashalme streifend schlenderte sie zum Apfelbaum. Da stand sie noch, die Bank. Vorsichtig setzte sich Elisabeth, legte ihre Hände mit dem Brief in ihren Schoß. Die Sonne wärmte ihre Haut. Ein Gefühl von Geborgenheit durchströmte sie. „Hier ist der richtige Platz.“ flüsterte sie. Noch einmal fuhr sie mit dem Finger über die Buchstaben auf der einen Seite des Briefes. Was sie wohl erwarten würde? Sie schloss die Augen, sog tief den Duft der Blüten ein, lauschte dem Brummen und Summen der Insekten um sie herum.
Jetzt! Sie gab sich einen Ruck, öffnete die Augen. Mit fahrigen Fingern zupfte sie an dem Brief, um ihn zu öffnen. Gut, das war geschafft. Langsam faltete sie das Blatt auseinander, begann zu lesen. Als sie am Ende angekommen war, blickte sie für einen Moment über die leuchtenden Blüten und fing nochmal von vorn an zu lesen. So ging es drei, vier Mal. Es war unmöglich, unglaublich, es konnte nicht wahr sein. Sie hatte bestimmt etwas nicht richtig verstanden. Doch so oft sie auch las, sie las wieder und wieder das gleiche.
Es war ein Liebesbrief, so ergreifend schön, so gewählt die Worte, geschrieben von einem Mann, der ihr seine Liebe gestand, vor langer Zeit. Er berührte ihr Herz, ihre Seele.